Na die Insider wissen schon…
Ich finde es schon merkwürdig. Ich war 15 Jahre dabei und mache 15 Jahre Ausstiegsarbeit – und bin durch mit dem Thema!
Ich erinnere mich noch genau…
Ich hatte so ein Interview, und die Journalistin sagte ungefähr: „Sie reden immer noch von Ihren Brüdern….“ Ja, genau so habe ich empfunden. Ich war nicht gegen meine Brüder und Schwestern, sondern gegen eine Organisation.
Das hat sich inzwischen völlig geändert!
Ich bin noch immer mit Ex-Brüdern per Du. Ich fühle mich Ex-Brüdern noch immer verbunden. Den Brüdern schon lange nicht mehr! Ich bin auch innerlich per Sie.
Wenn ich sie sehe, an den Bahnhöfen, in Fußgängerzonen oder irgendwo, dann sind sie weit weg. Und dann denke ich an Barbara. 15 Jahre bei mir, 60 bei ihr? Dann wäre sie genau wie alt?
Ich habe genug Zeit verschwendet.
Für mich bin ich klar. Für meine Ex-Brüder bin ich da – in Grenzen. Für die Eingeschlossenen definitiv nicht!
Es irritiert mich trotzdem, dass ich 15 Jahre dabei war – 15 Jahre in der Ausstiegsarbeit – und erst jetzt fängt es an, mir egal zu sein.
Ich gehe an diesen Wachtturmverkäufern vorbei, habe weder den Wunsch sie zu grüßen, noch zu lächeln, sie zu ignorieren oder Mitleid mit ihnen zu haben. Es sind Fremde. Ohne jeden Bezug zu mir, zu meinem Leben, zu meiner Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft.
Sie haben so gar nichts mehr zu tun, mit Gunda, Harald – meinen Zieheltern – Anita, Marianne, …war da noch wer? Klaus vielleicht…
Das ist alles schon so lange her. Es berührt mich kaum noch. Fremde, die mit meinem Leben heute nichts zu tun haben.
Und das ist ein Grund zur Freude.
Liebe Ricarda,
Du bist ein gutes Beispiel dafür, wie viel Geduld man auch mit sich selbst haben muss. Ich bin „erst“ 8 Jahre raus. Ich habe bereits enorme Veränderungen in meinem Leben erfahren und bin noch immer vor den Kopf gestoßen, wenn ich das Zurückrutschen in die alten, eingefahrenen Gleise bemerke. Erst vor kurzem hat mich eine liebe Freundin genau auf ein solches Verhalten aufmerksam gemacht. Wir mussten beide herzlich lachen.
Nun ja – eine Weile werde ich Wohl oder Übel noch strampeln. Zumal ich immer noch zu Interviews eingeladen werde.
Vielleicht hilft es ja nicht nur mir.
Ich wünsche Dir eine genussvolle Zeit in Deiner selbst gewählten Freiheit.
Liebe Grüße
Barbara
Liebe Barbara,
ich trage trotzdem noch immer meine Altlasten mit mir herum, weiß es aber! Bin noch immer 15 Minuten vorher da und gehe 15 Minuten später – oder – lasse keinen Mann in die Wohnung, wenn ich allein bin.
Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig. Du machst das ganz toll. Und auch du hast ja einen schönen Weg gefunden, weg vom Verein mit seinen bürokratischen Pflichten. Wir sehen uns bestimmt mal in einer Podiumsdiskussion.
Was ich vermisse, ist ein Bewusstsein der Politik für die Folgen der Kinder. Das betrifft aber nicht nur die Zeugen, sondern auch Muslime und Juden, wenn ich an das Thema Beschneidung denke, wo die Religionsfreiheit der Eltern als Grundrecht vor das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit gestellt wird. Noch hat kein Kind seine Eltern verklagt oder den Staat. Es ist ein Tabuthema in Deutschland und wohl unserer Geschichte geschuldet.
Es gäbe noch so viel zu tun. Da reicht ein Leben gar nicht. Glücklicherweise gibt es auch noch jüngere Aussteiger wie Uwe und Werner. Du siehst aber auch, wie groß das Bedürfnis nach Aufarbeitung bei beiden ist.
Der Ausstieg erfolgt, nach meiner Erfahrung in drei Stufen.
1. Stufe: Unsicherheit, prüfen, lesen, Fassungslosigkeit
In dieser Phase frisst der Aussteiger alle Informationen, die er bekommen kann und saugt sie wie ein trockener Schwamm auf, sucht Gleichgesinnte und tauscht sich intensiv aus.
2. Stufe
Der Aussteiger hat sich eine Meinung gebildet und findet ein neues Netzwerk, oft in Ausstiegskreisen, leckt seine Wunden, beklagt sein Schicksal und versucht seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. In dieser Phase wechselt er oft vom Pseudonym zum Realnamen, geht an die Öffentlichkeit und Hilft anderen Aussteigern.
3. Stufe
Der Aussteiger hat seinem Leben einen neuen Sinn gegeben, zieht sich aus der Ausstiegsszene zurück, behält sie sporadisch noch im Auge und sucht sich Freunde und Aufgaben, die ihn erfüllen.
Ich habe Menschen kennen gelernt, die mit 20 Jahren ausgestiegen waren und erst mit 60 Jahren begannen mit Stufe 1. Wie schnell sich der Ausstieg entwickelt, hängt auch davon ab, ob jemand in Drogen flüchtet und mit elementaren Dingen beschäftigt ist, wie Wohnung finden, Berufsleben oder Familie.
Das Verhalten gegenüber den Zeugen auf der Straße verändert sich übrigens auch. Während ich anfangs die Konfrontation gesucht habe, taten sie mir später Leid und heute sind sie mir egal.
Ich wünsche dir und deinem Sohn weiter viel Erfolg und Freude. Bei + war auch damals der Wunsch nach einem Schlussstrich und er hat zum Radio gewechselt. Grüß ihn schön von mir.
Liebe Grüße
Ricarda