Das Buch von Sandra Maxeiner ist da !

Ich bin der Ansicht, dass du ein Anrecht darauf hast, zu wissen, wie der Redaktions-Alltag der ‚Paradies GmbH‘ so aussieht.

Das sind die Menschen, auf deren Führung du während des Weltuntergangs vertrauen sollst.
Menschen, die behaupten, in Gottes Auftrag zu handeln.
Menschen, die behaupten, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben
Menschen, die keine Widerrede dulden und jeden Widerspruch mit sozialer Isolation bestrafen. Menschen, die Menschen sterben lassen, weil sie Prinzipien reiten.“ (Misha Anouk, ehemaliger „Zeuge Jehovas“ und Buchautor)

> Meine Vision lautet:  Leben ohne Angst <

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Margit Ricarda Rolf

Mittwoch, 8. April: Heute spreche ich mit einer der interessantesten Frauen,
die ich bislang interviewen durfte: Mit der 61-jährigen Margit Ricarda Rolf.
Couragiert und beherzt setzt sie sich für ein „Leben ohne Angst“ ein. Sie kämpft als Gründerin und Leiterin der Mobbing-Zentrale für Mobbing-Opfer und Aussteiger und engagiert sich außerdem für Menschen, die die Zeugen Jehovas – jene umstrittene Glaubensgemeinschaft, die Misha Anouk in seinem Buch als „Paradies GmbH“ bezeichnet – verlassen wollen.

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Foto: Margit Ricarda Rolf, © Karl-Peter Grube

Sie setzt sich ein für Menschen, die sich von den Zeugen belästigt fühlen oder für solche, die Gefahr laufen in deren Fänge zu geraten. Ricarda, die selbst
15 Jahre lang Zeugin Jehovas war, möchte, dass Menschen verstehen, dass dies keine harmlose Religionsgemeinschaft ist, sondern eine destruktive Sekte, die Familien und Menschenleben zerstört.
Man spürt in jedem ihrer Worte, dass es ihr ein Herzens-Anliegen ist.

Erst jetzt, nachdem ich das Buch „Goodbye Jehova!“ von Misha Anouk gelesen habe,
ahne ich, warum es Ricarda so wichtig ist, dass Menschen ohne Angst leben können
– tut die „Glaubensgemeinschaft“ doch wirklich alles, damit das nicht möglich ist:
Ihre „Jünger“ leben ständig mit einem „Schleier der Sorge, der Angst, der Verantwortung, der sich über alles legt.“

Angst, die sie erdrückt, Angst, dass Harmagedon kommt und die Welt untergeht, sie haben Angst, nicht genug gepredigt zu haben, Angst vor Jehova, Angst vor der Sünde – ja, sie haben Angst vor dem Leben!

Was diese ständige Angst aus Menschen macht, darüber berichtet Ricarda in unserem Gespräch. Sie spricht über Aussteiger, die ständig auf der Suche sind, stets auf der Jagd, um das, was sie die ganze Zeit über vermisst haben, nachzuholen. Dabei flüchten sie sich in Drogen und Alkohol oder stürzen sich in flüchtige Sexabenteuer.

Und es gibt auch die wirklich tragischen Fälle von Menschen, die an ihrem Ausstieg zerbrechen, dem psychologischen Druck nicht standhalten, sozial isoliert sind und sich das Leben nehmen. Bei einer Umfrage gaben über 85 Prozent der Zeugen Jehovas an, Glaubensgeschwister zu kennen, die Selbstmord begangen haben.“

Maxeiner: Sie haben mir geschrieben, dass Sie sich ehrenamtlich um Aussteiger der Sekte „Die Zeugen Jehovas“ kümmern.
Was genau machen Sie da und wie sind Sie zu dieser Tätigkeit gekommen?

Rolf: Ich war 15 Jahre lang selbst eine Zeugin Jehovas und habe meine Kinder bei den Zeugen Jehovas großgezogen. Meine Tochter hat sich mit 13 Jahren taufen lassen und ist mit 17 von zu Hause abgehauen. Und dann ist mein Mann ausgestiegen und meine anderen Kinder wollten nicht mehr mit mir zu den Versammlungen gehen. Von diesem Zeitpunkt an war ich als Mutter die einzige, die noch hingegangen ist.

Und eines Tages kam ich nach Hause, mein Mann saß vor dem Computer und hat einfach nur auf den Monitor gestarrt. Ich hab ihn gefragt: „Du, sag mal, was machst du denn da?“, und er antwortete: „Stell dir mal vor, im Internet gibt’s ehemalige Zeugen Jehovas.“ „Na“, hab ich zu ihm gesagt, „du bist doch auch ehemaliger Zeuge Jehovas, dann melde dich doch.“ Worauf er entgegnete: „Das dürfen wir doch nicht.“ Das wiederum hat mich so fassungslos gemacht, dass ich ihn gefragt habe: „Bist du verrückt? Du bist seit zwei Jahren nicht mehr dabei und traust dich nicht dich da anzumelden? Dann mache ich das.“

Gesagt, getan und so habe ich Kontakt zu ehemaligen Zeugen Jehovas bekommen, die mir das Buch „Der Gewissenskonflikt“ von Raymond Franz empfohlen haben. Natürlich habe ich meinem Mann davon erzählt, der vollkommen entgeistert war: „Das ist ein Buch von Abtrünnigen, das dürfen wir nicht lesen!“ Doch ich blieb hartnäckig: „Was ich lese, das bestimme ich immer noch selbst! Bestell mir bitte das Buch!“

Schließlich hat mein Mann mir das Buch bestellt, und als ich die Hälfte gelesen hatte, habe ich mein Austrittsschreiben formuliert, das im Internet nachzulesen ist. 2001 bin ich ausgestiegen, hab‘ mich von meinem Mann scheiden lassen und bin ein Jahr später mit meinem jetzigen Partner Karl-Peter zusammengekommen. Auch zu meiner Tochter hab ich wieder Kontakt aufgenommen. Gemeinsam haben wir 2004 mit dem Projekt
„Zeugen Jehovas Ausstieg“ begonnen. Natürlich haben die Zeugen versucht, uns Steine in den Weg zu legen, doch sie hatten keinen Erfolg. Denn „Zeugen Jehovas Ausstieg“ ist kein Namensmissbrauch, weil es ganz klar im Namen impliziert, dass es sich um Ausstieg handelt. Seither lassen sie uns in Ruhe.

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Foto: © Margit Ricarda Rolf


Maxeiner: Warum setzen Sie sich so beherzt für den Ausstieg bei den Zeugen Jehovas ein?

Rolf: Ich selbst bin erst spät zu den Zeugen Jehovas gekommen – d. h. ich hatte ein Leben davor und habe jetzt eines danach. Doch meine Kinder hatten kein Leben davor.
Es ist meine Verantwortung, dass sie bei den Zeugen groß geworden sind, dass sie nichts anderes kennengelernt haben, dass sie keine Chance hatten, ihre Persönlichkeit frei zu entwickeln, keine Chance, unabhängig von anderen zu werden und keine Chance, kritisch und offen Dinge zu hinterfragen.

Schon als Kleinkinder mussten sie mit zu den „Versammlungen“ gehen. Für sie kam alles, was in diesen „Versammlungen“ von der Bühne kam, direkt von Gott. Und genau deshalb haben Menschen, die später die Zeugen Jehovas verlassen, große Probleme, sich im Leben zurechtzufinden.

Maxeiner: Was macht die Zeugen Jehovas aus Ihrer Sicht so gefährlich?

Rolf: Den Kindern der Zeugen Jehovas wird beigebracht, dass der Weltuntergang „Harmagedon“ kommt, und sie deshalb keine qualifizierte Ausbildung brauchen. Sie brauchen kein Abitur, brauchen nicht zu studieren. Denn das ist – glaubt man den Zeugen Jehovas – alles reine Zeitverschwendung. Nur eines ist wichtig: predigen, predigen, predigen. Steigt dann jemand mit 18 Jahren aus, ist er ein junger Mensch, der seine Persönlichkeit nie frei entfalten konnte. Und das ist ein Verstoß gegen unser Grundgesetz.

Maxeiner: Was war in der ganzen Zeit, seit Sie die Aussteiger betreuen,
Ihr härtester Fall?

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Margit Ricarda Rolf

Rolf: Es ist für jeden Menschen hart, der viele Jahre bei den Zeugen Jehovas gewesen ist. Erst neulich hatte ich ein Telefonat mit einem 75-jährigen Mann, der von Geburt an dabei war. Vor 15 Jahren ist er ausgestiegen. Noch immer hat er nicht verwunden, dass er sechzig Jahre seines Lebens verschwendet hat. Und auch nach 15 Jahren versuchen Verwandte, die noch bei den Zeugen Jehovas sind, ihn zu „belatschern“, damit er wieder zurückkommen soll. Das heißt, er kommt überhaupt nicht zur Ruhe.

In einem anderen Fall habe ich erlebt, dass die Zeugen Jehovas die demente Großmutter, die noch bei den Zeugen ist, bearbeitet haben. Sie sollte ihr Haus und alles, was sie hat, den Zeugen Jehovas vererben. Das sind alles Dinge, die bei mir in der Ausstiegs-Arbeit auflaufen. Mein Schwerpunkt aber ist eigentlich, dass ich versuche, religions-mündigen Kindern zwischen 14 und 18 zu helfen. Kindern, die sagen, sie werden von ihren Eltern gezwungen, zu den Versammlungen zu gehen, es aber eigentlich gar nicht mehr wollen. In diesem Fällen versuche ich, über das Jugendamt und über Anwälte Pflegefamilien zu finden oder Wohngemeinschaften, die die Kinder aufnehmen.

Maxeiner:   Wie schwierig ist diese Arbeit?
Ich kann mir vorstellen, dass Sie nicht nur mit dem Widerstand der Eltern zu kämpfen haben, sondern auch mit dem massivem Widerstand der Zeugen Jehovas.

Rolf: Wenn sich Kinder- und Jugendliche an uns wenden, ist immer die erste Frage: „Sind beide Eltern bei den Zeugen Jehovas?“ Häufig haben wir Glück, dass sich die Kinder an uns wenden, bei denen bereits ein Elternteil ausgestiegen ist. In diesen Fällen raten wir ihnen: „Nehmt Kontakt zum ausgestiegenen Elternteil auf“, denn ihnen wird ja oft von dem Elternteil, der noch bei den Zeugen ist, der Umgang verweigert. Stellen Sie sich vor, wir hatten einen Vater, dessen Tochter acht Jahre alt war, als er ausgestiegen ist und 15 Jahre, als sie selbst aussteigen wollte.

Inzwischen war aber nicht nur ihre Mutter bei den Zeugen Jehovas, sondern auch ihr Stiefvater, der ein 100-prozentiger Zeuge ist und sehr grausam zu dem Mädchen war. Und diesem Mädchen musste ich jetzt klar machen: „Du musst Kontakt zu deinem leiblichen Vater aufnehmen!“. Und genau das hat sie dann auch getan. Ihr Vater, der inzwischen in Frankreich lebte, ist sofort nach Deutschland gekommen, als er davon hörte, hat sich um seine Tochter gekümmert, das Sorgerecht beantragt, und sie mit nach Frankreich genommen. Dort kann sie jetzt Abitur machen und auch studieren, wenn sie das möchte. Das alles hat aber zur Konsequenz, dass sie den Kontakt zu ihrer Mutter quasi verliert.

Maxeiner: Die Mutter ist noch immer bei den Zeugen Jehovas?

Rolf: Ja, und sie lehnt jeden Kontakt mit ihrer abtrünnigen Tochter ab. Ich werde auch manchmal von Richtern angerufen, die solche Sorgerechts-Verfahren bearbeiten müssen. Und die verstehen eben nicht, warum der „Noch-Zeugen-Teil“ plötzlich von seinem Kind nichts mehr wissen will, und keinen Kontakt zum „Nicht-Zeugen-Elternteil“ hat. Die Zeugen Jehovas sagen dann zu den Abtrünnigen: „Der ist jetzt in die Welt Satans gegangen. Damit wollen wir nichts zu tun haben. Und wenn unser Kind sich jetzt zum Satan hingezogen fühlt, dann wollen wir auch mit unserem Kind nichts mehr zu tun haben.“ Das ist eine ganz problematische Familienbeziehung.

Maxeiner: Können das Mädchen und ihr Vater unbehelligt von den Zeugen Jehovas in Frankreich leben? Oder versuchen sie Einfluss auf das Mädchen zu nehmen und einen Keil zwischen sie und ihren Vater zu treiben?

Rolf: Nein. In dem Moment, wo der „nicht-gläubige“ Elternteil das Sorgerecht hat, bricht der Kontakt zum Rest der Zeugen komplett ab. Da wird auch nichts mehr versucht. Man versucht es vor allem bei kleinen Kindern. Das sind ganz üble Sachen, weil die Anwälte der Zeugen Jehovas versuchen, den Müttern einzureden, dass sie behaupten sollten, der Vater hätte sexuelle Übergriffe versucht.

Dann wird sofort ein Kontaktverbot vom Gericht ausgesprochen. Das praktizieren die Zeugen Jehovas bei Kleinkindern. Wenn die Kinder allerdings älter sind, haben sie ja schon einen eigenen Willen und sagen dann „Ich mach‘ da nicht mit, ich lüg‘ doch nicht“. Aber kleine Kinder haben ja noch eine besondere Nähe zu ihrer Mutter und machen meist das, was sie ihnen sagt.

Maxeiner: Gab es auch schon Fälle, wo Sie versucht haben, den Kindern zu helfen, aber diese es trotz Ihrer Bemühungen dann doch nicht geschafft haben, auszusteigen?

Rolf: Ich hab‘ jetzt gerade ein 14-jähriges Mädchen, das sich in einen 16-jährigen Jungen verliebt hat. Der Junge, der nicht bei den Zeugen Jehovas ist, rief mich an. Er will, dass das Mädchen jetzt mit ihrem Vater spricht, und ihm sagt: „Ich möchte nicht mehr zu der Versammlung gehen. Ich will das alles nicht mehr.“ Heute erst hatte ich wieder Kontakt mit ihr via Facebook und hab sie gefragt: „Hast du schon mit deinem Vater gesprochen?“ Und sie hat dann geantwortet: „Nee, noch nicht wirklich“.

Es gehört unheimlich viel Energie und Rückgrat dazu, zu sagen „Jetzt hab‘ ich den Mut und sprech‘ das an. Denn diese jungen Leute leben ja in einer Art „Zwischenwelt“ – einerseits wollen sie die Beziehung zu ihren Eltern nicht kaputt machen, andererseits sind sie verliebt und wollen auch ihren Partner nicht verlieren, der natürlich drängelt. Der Junge hat mich auch schon gefragt, ob es gut wäre, wenn er in der Familie aufkreuzen würde.

Ich hab‘ dann gesagt: „Um Himmels willen, bloß nicht eskalieren lassen“. Manchmal zieht sich das über einen langen Zeitraum hin. Und dann kann es auch sein, dass so ein Mädchen einknickt und sagt „Ich hab‘ die Kraft nicht“ und sich lieber von ihrem Freund trennt und wieder zur Versammlung geht. Solche Fälle habe ich schon erlebt. Es kommt auch vor, dass gerade solche jungen Menschen besonders aktive Mitglieder der Zeugen Jehovas werden, damit nicht ‚rauskommt, dass sie mal auf „Abwegen“ waren.

Maxeiner: Kann man die Zeugen Jehovas in gewisser Art und Weise mit den Scientologen vergleichen oder würden Sie sagen, dass die Scientologen da noch einen Tick gefährlicher sind, weil sie auch mit ganz diffizilen und ausgefeilten psychologischen Manipulationstechniken arbeiten?

Rolf: Diese Frage wird mir sehr oft gestellt. Einerseits kann man sie vergleichen, weil viele Strukturen ähnlich sind. Der Unterschied zwischen den Zeugen Jehovas und den Scientologen ist, dass die Scientologen aktiv werden – sie stalken die Leute, die aussteigen wollen, schädigen ihren Ruf, auch auf ihrem Arbeitsplatz. Sie bedrohen die Menschen direkt und werden auch handgreiflich. All das machen die Zeugen Jehovas nicht. Die Zeugen Jehovas haben ein Kontaktverbot und grenzen die, die ausgestiegen sind, aus.

Wenn sie ihnen auf der Straße begegnen, wechseln sie die Straßenseite. Das ist natürlich auch hart. Ich hatte gerade wieder mit einer Mutter zu tun, deren Tochter ausgestiegen ist. Beide wohnten in Reihenhäusern. Die Eltern hatten ein Reihenhaus, daneben wohnte eine Zeugen-Jehovas-Familie, und eine Haustür weiter lebte die Tochter. Das heißt, die Zeugen haben immer mitbekommen, wenn sie sich gesehen haben.

Die Eltern haben den Kontakt zu ihrer ausgeschlossenen Tochter aufrecht erhalten, wurden dann aber von den Zeugen angeschwärzt, die in der Mitte wohnten, und sind ebenfalls ausgeschlossen worden. Erst jetzt – nachdem sie ausgeschlossen wurden – entdecken sie langsam, was für eine große Freiheit es ist, nicht mehr zu den Zeugen zu gehören. Die Familie hat es nicht als Verlust wahrgenommen, sondern als Befreiungsakt empfunden. Die Praxis der Zeugen Jehovas besteht in Ausgrenzung!

Maxeiner: Das ist natürlich für die Menschen, die unter Umständen ihr halbes Leben bei den Zeugen Jehovas verbracht haben, genauso schlimm, wenn sie ausgegrenzt werden, weil ihre sozialen Kontakte mit einem Mal wegbrechen.

Rolf: Die Aussteiger verlieren alles. Gerade, wenn ein junger Mensch bei den Zeugen Jehovas aussteigt, verliert er nicht nur seine Familie und deren Unterstützung, sondern sein gesamtes soziales Netzwerk. Und das führt bei jungen Aussteigern – die bei den Zeugen Jehovas ja nichts durften – oftmals dazu, dass sie erst mal alles nachholen.

Sie saufen die Nächte durch, nehmen Drogen, gehen exzessiv durch die Betten – und sie laufen Gefahr, sich dabei eine sexuell übertragbare Krankheit zu holen oder schwanger zu werden. Dieser Zustand dauert manchmal mehrere Jahre, bis die Aussteiger wieder zur Besinnung kommen. Aber sie begreifen, dass es ein Leben nach den Zeugen tatsächlich gibt. Allerdings überleben viele Aussteiger diese Phase nicht und nehmen sich das Leben oder bleiben auf der Strecke.

Maxeiner: Wie häufig kommt das vor?

Rolf: Viel öfter als man glaubt. Das meiste davon kommt ja nicht an die Öffentlichkeit. Und wenn Sie noch etwas mehr tun wollen, empfehle ich Ihnen das Buch von Misha Anouk „Goodbye Jehova“. Er ist ein Hineingeborener, der Sohn eines Ältesten und hat diese ganzen „Aussteiger“-Phasen- auch die Drogenphase durchlaufen – und sie überlebt. Ich bin ja keine Hineingeborene und kann das nur aus der „Außen-Perspektive“ als Mutter von Kindern, die hineingeboren wurden, betrachten. Misha beschreibt auf sehr humorvolle Weise die grotesken Situationen, die er erlebt hat. Ich glaube, das ist das, was einen am meisten hilft: Wenn man sich seinen Humor bewahren kann.

Maxeiner: Sie haben gesagt, Sie waren 15 Jahre lang selbst bei den Zeugen Jehovas, wie haben Sie den Ausstieg geschafft? Was war für Sie letztendlich der ausschlaggebende Punkt, dass Sie gesagt haben „Ich kann das nicht mehr, ich will das nicht mehr“. War es wirklich „nur“ dieses Buch, was Sie eingangs erwähnt haben, oder kam da noch mehr dazu?

Rolf: Die ersten fünf Jahre war ich mit Begeisterung Zeugin Jehovas. Aber dann kamen meine Kinder und stellten Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Schließlich stieg meine Tochter aus. Es waren fünf Jahre, wo wir uns dann so durchgequält haben, die letzten fünf hatte ich dann schon erhebliche Zweifel an vielen Dingen. Weil ich aber von unserem Ältesten zurechtgewiesen wurde, habe ich meinen Mund gehalten. Mein Motto war: „Augen zu und durch!“ Als ich dann nach Hause kam und dieses Buch gelesen habe, bin ich an die Stelle angekommen, an der es um Mexiko – Malawi geht.

Eigentlich ist ja alles, was bei den Zeugen Jehovas geschieht, von Seiten der Zeugen Jehovas einheitlich geregelt. Doch nicht so im Konflikt in Malawi. Unsere Brüder in Malawi waren Tutsis, und es gab damals in Malawi ein Parteibuch, das man annehmen musste: denn es gab nur eine Partei. Doch die Zeugen Jehovas haben ihnen verboten, das Parteibuch anzunehmen. Daraufhin wurden die Tutsi-Frauen vergewaltigt und umgebracht. Nur, weil sie dieses Parteibuch nicht annehmen wollten.

Und in Mexiko haben unsere Sonderpioniere eine Bescheinigung bei sich getragen, dass sie zur zweiten Reserve des Militärs gehören, weil dort die Zeugen Jehovas keine Religionsgemeinschaft sind, sondern eine soziale Gemeinschaft. Das ganze war angeblich nur eine Frage der Steuerfreiheit. Man hat also den Zeugen Jehovas in Mexiko und Malawi genau gegensätzliche Anweisungen erteilt, wie sie sich verhalten sollten, nur aus steuerlichen Gründen. Und als ich das gelesen habe – von einem Mitglieder der leitenden Körperschaft, der ausgestiegen war – war für mich klar: „Das alles ist Lug und Betrug, was wir da machen. Und das kann ich keinen Tag länger mitmachen.“

Maxeiner:  Es ist Ihnen – wie ich aus jedem Ihrer Sätze höre
– ein Herzensanliegen, Menschen „aus den Klauen“ der
Zeugen Jehovas zu befreien.
Was bringt Ihnen die Arbeit mit den Aussteigern für sich persönlich?

Rolf: Was ich nicht kann, ist die Vergangenheit zu ändern. Ich kann nichts ungeschehen machen. Und meine Kinder waren zum Teil sehr unglücklich und das kann ich nicht ausradieren. Aber ich kann ich einen Beitrag dazu leisten, dass Kinder, die in einer ähnlichen Situation sind, Hilfe bekommen. Und das ist eine Form von Wiedergutmachung, nicht an meinen Kindern, sondern an Kindern überhaupt.

Maxeiner: Sie haben mir geschrieben, was Ihre Vision für
„Was wirklich zählt im Leben“ ist: „Ein Leben ohne Angst.
Und das gilt sowohl für Mobbing, für Sekten und für die
Zerstörung unserer Umwelt.“
Können Sie etwas mehr über Ihre Vision erzählen, was es ist,
was Sie da antreibt, und warum Ihnen das so wichtig ist?

Rolf: Ich war, als ich mein Unternehmen aufgebaut habe, auch bei Unternehmensberatern und habe Kurse besucht und in einem ging es darum, was meine Vision ist. Innerhalb einer Woche haben wir das erarbeitet, und am Ende stand: „Es ist ein Leben ohne Angst.“ Wenn der Mobbingbetroffene sich auf dem Weg zur Arbeit schon übergeben muss, macht ihn das auf Dauer sehr krank.

Und wenn Kinder bei den Zeugen Jehovas groß werden und immer Angst haben, sie sterben, weil sie nicht gut genug sind, weil Harmagedon kommt oder weil sie vielleicht gelogen haben, oder beim Geburtstagfeiern in der Schule ein Bonbon angenommen haben, wenn sie ständig in dieser Angst leben, dann ist das eine große psychische Belastung. Und da wünsche ich mir ein Leben frei von Angst – für diese Kinder.

Wir leben ja heute in einer Welt, die uns Angst macht: Ebola macht uns Angst, Putin macht uns Angst, die Ukraine macht uns Angst … Wir können ja gar nicht mehr durchatmen. Was uns helfen würde, diese Ängste zu überwinden: Mehr Gelassenheit zu entwickeln, wieder mehr auf unsere innere Stimme zu hören, zu schauen, was für uns persönlich eigentlich wirklich gut ist. Und das ist für jeden etwas anderes: Der eine sitzt gern auf der Terrasse beim Sonnenuntergang, mit einem Glas Wein in die Hand und der andere feiert gern Kindergeburtstag und freut sich, wenn die Kinder die Kerzen ausblasen. Für jeden ist das Leben, das Glücklichsein etwas anderes. Aber wenn immer diese Angst wie ein Damoklesschwert über uns schwebt, dann kommen wir nicht zum Atmen.

Maxeiner: Was ist für Sie selbst das Wichtigste im Leben?
Was zählt für Sie ganz persönlich?

Rolf: Das ist das Anschauen des Kleinen. Ich hab eine kleine Geschichte geschrieben, in der ich vom schönsten Augenblick in meinem Leben erzähle. Diese Geschichte liegt viele Jahre zurück. Ich lag auf einer Blumenwiese und war in vollkommener Harmonie mit mir. Ich war entspannt, hatte eine Hand auf meinem Oberschenkel. Und plötzlich setzte sich ein Schmetterling auf meine Hand. Ich blieb ganz ruhig liegen, wagte nicht, mich zu bewegen. Und betrachtete gebannt diesen schönen Schmetterling. Es waren vielleicht nur fünf Minuten, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit, denn ich hatte versucht, mich nicht zu bewegen. Dieser Schmetterling war meine schönste Begegnung.

Maxeiner: Sie engagieren sich auch noch für die Umwelt. Können Sie noch etwas darüber erzählen, warum Ihnen dieses Engagement so wichtig ist?

Rolf: Das hängt wiederum mit den Zeugen Jehovas zusammen. Die Zeugen Jehovas warten ja, dass Harmagedon kommt und Gott anschließend ein Paradies auf Erden errichtet. Nachdem ich ausgestiegen bin, hab‘ ich gesagt „Ich warte nicht mehr, ich fange an, das Paradies zu gestalten.“ Und das beginnt für mich in Hamburg mit dem Fledermausschutz. Ich habe eine kleine Mückenfledermaus einige Zeit gepflegt, die leider nicht überlebt hat, weil sie viel zu krank schon war.

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Foto: Mückenfledermaus, © Karl-Peter Grube

Wir haben in Hamburg verschiedene Fledermäuse und dadurch, dass die Menschen in unserer Stadt nicht dafür sorgen, dass die auch Unterschlupfmöglichkeiten bekommen, sterben sie aus. Und das führt dazu, dass wir zu viele Spinnen haben. So haben die Menschen in der Hafen-City schicke Büroräume aus Glas, können aber die Fenster nicht öffnen, weil sie es versäumt haben, für Natur zu sorgen. Sie leben nun in einer „Spider-City“. Wir brauchen die Fledermäuse, weil sie auch Schädlinge wegfressen. Für mich wäre es sinnvoll, wenn wir bereits in den Grundschulen Ökologie-Unterricht einführen, damit der Zusammenhang verstanden wird.

Maxeiner: Inwieweit hat Sie Ihre ehrenamtliche Arbeit, die ja wirklich vielfältig und breitgefächert ist, verändert?

Rolf: Ich denke, ich bin nachsichtiger geworden – sowohl mit mir als auch mit meinen Mitmenschen. Ich lasse heute sehr viel mehr Alternativen zu. Und ich habe durch die Ausstiegsarbeit gelernt, das Leben immer wieder ganz neu auszuprobieren, es auch zuzulassen.

Frau Rolf, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

Quelle:   Der Blog von Sandra Maxeiner

Sandra Maxeiner - Projekt

Sandra-Maxeiner-Das-Buch-2cJERRY Media Verlag    Sandra Maxeiner
Buch:  Was wirklich zählt im Leben   ISBN: 978-3-9524441-2-2
Über Menschen, Herzenswärme und wesentliche Dinge des Lebens.
Sandra Maxeiner - Das Buch - S2b

KP:    Ich bin sehr stolz auf meine Partnerin „Margit Ricarda Rolf„,
.          denn sie macht viel mehr, als man von jedem Einzelnen erwarten kann.

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Karl-Peter – Der Radikator

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Eine Antwort zu Das Buch von Sandra Maxeiner ist da !

  1. Ricarda sagt:

    Guten Morgen. WOW, danke Karl-Peter, der Tag fängt ja gut an.

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